Mein Freund, der Asylant *

Von Andrea Holzmann-Jenkins (Spectrum)

Immer wieder musste er rüde Polizeikontrollen über sich ergehen lassen. Damals hatte er noch ein Visum. Jetzt ist er "illegal". Als Schwarzafrikaner in Wien: Ich habe den Albtraum miterlebt.

Dieser Artikel wurde in der österreichischen Zeitung »Die Presse« am 20.1.07 veröffentlichtDer Anwalt hat gute Nachrichten, doch I. ist verschwunden. Seit zehn Tagen habe ich nichts von ihm gehört. Ich habe es geahnt. Alles, nur nicht in Schubhaft geraten, hat er immer wieder gesagt. Unerträglich schien es ihm nach allem, was man hörte. Nur die spektakulärsten Fälle finden ihren Weg an die Öffentlichkeit, hat er behauptet. Wenn einer stirbt zum Beispiel. Oder wenn einer eine "Abreibung" verpasst bekommt, die nur durch eine Verkettung von Zufällen und durch schlampige Beweismittelentsorgung publik wird. Was sonst noch passiert, weiß niemand so genau. Ist einer erst abgeschoben, kann er auch nicht mehr berichten.

Einen Vorgeschmack auf die Staatsgewalt hat I. bereits bekommen. Immer wieder musste er rüde Polizeikontrollen über sich ergehen lassen - auf der Straße, in den Internet-Cafés und an anderen Orten, an denen sich Afrikaner gerne aufhalten. Alle paar Wochen drang die Polizei nächtens in die Wohnung ein, die er mit zwei Freunden teilte. Bewaffnete Polizisten standen plötzlich im Zimmer und zwangen die Bewohner, sich mit erhobenen Händen an die Wand zu stellen. Keiner der Afrikaner wagte, nach einem Durchsuchungsbefehl zu fragen. Nie haben sie etwas gefunden, die Polizisten, wonach immer sie gesucht haben mögen. Ohne Erklärung und ohne Entschuldigung sind sie wieder abgezogen und haben Einschüchterung und Angst zurückgelassen. Für die sind wir alle Drogendealer, hat I. achselzuckend gesagt und erwähnt, dass einer der Polizisten "nett" gewesen sein. Damals hat er noch ein gültiges Visum gehabt. Nun ist er "illegal". Ich habe den Albtraum miterlebt.

Es begann mit der Ablehnung des Asylansuchens. "Gemäß § 8 Abs 1 AsylG wird festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von I. O. nach XY zulässig ist. I. O. wird aus dem österreichischen Staatsgebiet nach XY ausgewiesen." Am Bescheid hängt ein Begleitschreiben. In diesem steht, dass der Bescheid bereits vor Wochen rechtsgültig zugestellt worden und die Frist für eine Berufung daher abgelaufen sei. I.s Pech, wenn er den Bescheid nicht erhalten hat. I. hat ab sofort kein Aufenthaltsrecht mehr in Österreich. Er kann zur Abschiebung festgenommen werden - jederzeit, auch jetzt, hier, auf der Terrasse des Innenstadtcafés, in dem wir sitzen und die amtlichen Papiere studieren.

Nach den ersten Schreckminuten beginnen wir zu handeln. Im Warteraum der Hilfsorganisation, die wir aufsuchen, treffen wir zwei Afrikaner, denen Ähnliches widerfahren ist. Einem von ihnen konnte man ein Schriftstück nicht zustellen, weil seine Adresse angeblich nicht existierte - dieselbe Adresse, an der die Fremdenpolizei am nächsten Tag auftauchte, um ihn festzunehmen. Der Jurist der Hilfsorganisation schreibt für I. an den Verwaltungsgerichtshof und bittet um nochmalige ordnungsgemäße Zustellung des Bescheids. Er rät I., sich von öffentlichen Orten fernzuhalten. Auch für mich hat er einen Rat. Nach dem geltenden Gesetz mache ich mich strafbar, wenn ich I. bei mir aufnehme, warnt er mich. Ich fühle mich wie die Komplizin eines Verbrechers.

Menschenverachtende Wahlpropaganda (hier sogar an öffentlichen Verkehrsmitteln in Graz) trägt eine erhebliche Mitschuld an der Ausländerfeindlichkeit, die in Österreich grassiert. Der Slogan »Kein Daham dem Radikal-Islam« bedeutet, dass Graz dem Islam (und damit den moslemischen Mitbürgern) kein Zuhause bieten sollAb nun regiert die Angst. Bei einer Durchsage in der U-Bahn bleibt mein Herz fast stehen: Betriebsstörung aufgrund einer Polizeiaktion. Die Station, in der dies vor sich geht, ist weit weg, doch ich begleite I. vorsichtshalber bis in seinen Wohnbezirk. Ich bitte ihn, keinen Widerstand zu leisten, sollte er festgenommen werden. Ich beschwöre ihn, mich im Notfall sofort zu benachrichtigen, und notiere die Telefonnummern der Hilfsorganisationen. Mein Handy bleibt auch des Nachts empfangsbereit. Ich fühle mich hilflos, ich ahne, dass ich kaum etwas für ihn tun kann.

Langsam erst realisiere ich, was geschehen ist. Der Mensch, der mir im Laufe der vergangenen Monate zu einem Freund geworden ist, ist von meinem Staat zu einem "Illegalen" erklärt worden und ist nun quasi vogelfrei. Gestern um diese Zeit haben wir noch fröhlich im Kreis der Freunde am Rathausplatz den Sommer genossen. Heute, wenige Stunden später, steht I. außerhalb der Gesellschaft, und alles, was wir nun tun werden, steht unter dem Vorzeichen der Ungesetzlichkeit.

Ich will alles versuchen, um I.s Abschiebung zu verhindern, so viel steht fest. Er darf nicht abrupt aus seinen Lebensverhältnissen gerissen werden, die ihm nach dem Trauma seiner Flucht wieder eine Zukunftsperspektive bieten.

Erst aus dem Bescheid erfahre ich, warum er aus seiner Heimat geflüchtet ist. Er hatte kaum über seine persönliche Situation gesprochen, und ich war nicht weiter in ihn gedrungen. Niemand verlässt seine Heimat ohne gute Gründe. Dass er mir nicht gleich seine ganze Geschichte anvertraute, fand ich in Ordnung. Es war zwar unwahrscheinlich, dass ich ein Spitzel seiner Regierung war, aber wer wusste schon, was er unter den Verhältnissen in seinem Land zu argwöhnen gelernt hatte. Auch dass er seinen Status als Asylwerber wochenlang vor mir verbarg, zeugte von Befürchtungen. "Mit Asylanten will niemand etwas zu tun haben", hatte er gemeint und war schließlich erleichtert, als ich mich nicht von ihm lossagte.

Nun habe ich seine Geschichte gelesen. Eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen muslimischen Glaubens ist ihm, dem Christen, zum Verhängnis geworden. Nur knapp war er der Rache der Verwandten des Mädchens entgangen, die ihn gefangen genommen hatten und drauf und dran waren, ihm ein Bein abzuhacken. Durch einen glücklichen Umstand konnte er flüchten, doch war er nirgendwo mehr sicher, denn die Polizei in seinem Land ist, wie auch der Asylbescheid einräumte, nicht in der Lage, irgendjemanden effektiv zu schützen. Deshalb hatte er sein Leben in seinem Land, seine Familie, seine Freunde, sein Studium, hinter sich gelassen, war auf abenteuerliche Weise nach Europa geflüchtet und durch Zufall in Österreich gelandet.

Es fällt mir schwer, diese archaisch anmutende Vergangenheit mit dem gebildeten und weltoffenen I. in Zusammenhang zu bringen, den ich kenne, dem jungen Mann, der sich in seinen Anschauungen, Vorlieben und seinem Lebensstil kaum von hiesigen jungen Leuten unterscheidet. Wahrscheinlich teilt er sein Schicksal mit vielen anderen der sich lässig gebenden jungen Männer aus seinem Kontinent, die mir, meist mit dem Handy am Ohr, auf Wiens Straßen begegnen. Oder mit denen, die wegen kleinerer Delikte in Haft geraten sind und dort, laut einem Bewährungshelfer, durch ihren ausgeprägten Gemeinschaftssinn viel zum reibungslosen Alltag in den österreichischen Gefängnissen beitragen. Die wenigsten von ihnen sind Kriminelle, wie eine jüngst veröffentlichte Studie des Justizministeriums - überrascht - feststellt.

Mich verwundert das keineswegs, und mich beschleicht überdies der Verdacht, dass zwischen den illegalen Handlungen der Afrikaner und den Umständen, die durch die Bestimmungen des Fremden- und Asylrechts geschaffen werden, ein enger Zusammenhang besteht.

Unmittelbar nach Ausstellung des negativen Asylbescheids verweigert man I. die Auszahlung der 290 Euro, die der Staat Asylwerbern monatlich zur Deckung der Lebenshaltungskosten zugesteht. Auch als der Verwaltungsgerichtshof nach einigen Wochen auf das Schreiben der Flüchtlingshilfsorganisation reagiert, I. einen Anwalt als Verfahrenshilfe zuteilt und somit signalisiert, dass eine gute Chance auf die Wiederaufnahme des Asylverfahrens besteht, wird ihm das Geld nicht ausbezahlt - und auch nicht während der Frist, in der der Anwalt an der Eingabe arbeitet. I. müsse sich der Fremdenpolizei stellen, dann bekomme er das Geld, wird ihm von der Sozialarbeiterin - verordnungsgemäß - beschieden, die ihn jedoch gleichzeitig davon in Kenntnis setzt, dass die Fremdenpolizei an seiner Adresse bereits nach ihm suche, um ihn in Schubhaft zu nehmen. I. bleibt wochenlang ohne Geld.

Schon zuvor war mir rätselhaft gewesen, wie man in Wien mit 290 Euro im Monat überleben kann. Nach dem geltenden Gesetz dürfen Asylwerber nicht arbeiten, sind zur Untätigkeit verurteilt und auf die Almosen des Staates angewiesen. In I.s Fall bedeutete dies unter anderem das Ausschlagen eines lukrativen Angebots einer Agentur, die ihn, den großen, schlaksigen, gut aussehenden Mann, für Modeaufnahmen engagieren wollte. Er findet sein Auskommen, so stellte ich nach einiger Zeit fest, weil er und seine Freunde alles teilen. Sie leben zusammen, essen zusammen und überlassen ihre Kleider und sonstigen Besitztümer dem, der sie gerade am dringendsten braucht.

Auch jetzt quartiert sich I. bei Freunden ein, denn ein Verbleib in seiner Wohnung erscheint zu gefährlich. Der Befehl zur Abschiebung ist trotz der Weiterführung des Verfahrens aufrecht, und so riskiert er lieber einen Verstoß gegen das Meldegesetz als die Festnahme. Der Anwalt beginnt mit seiner Arbeit. Er verbreitet vorsichtigen Optimismus. Auch wir nehmen die Routinen unserer Freundschaft wieder auf und üben uns in Normalität. Es fällt nicht leicht. Die Polizei kontrolliert Afrikaner häufig und an allen Orten - als wären sie diejenigen, vor denen man unser Land am meisten schützen müsse. Wir lesen über den Folterfall Bakary J. und betrachten mit flauem Magen das Foto des zerprügelten Gesichts.

Mehrmals am Tag telefoniere ich mit I., unter allen möglichen Vorwänden, und bin jedes Mal froh, wenn er abhebt. Wie zuvor sprechen wir viel miteinander, nicht nur über scheinbar Banales. Bald streiten wir wieder über Religion oder über die Stellung der Geschlechter. Der Mann ist das Oberhaupt der Familie, auch wenn die Frau mehr verdient, verkündet I. ungeniert. Dann erklärt er, dass alles, was in Afrika gut ist, von den Frauen gemacht würde, und es ist für ihn kein Widerspruch. Er trägt ein goldenes Kreuz am Hals, geht regelmäßig in die Kirche und vertraut seinem Gott. Dieser ist freundlich, erlaubt Singen, Tanzen und Essen in seiner Kirche und sogar das Versenden von SMS während der Messe. Ich behaupte, Religion sei Opium fürs Volk. I. lacht über diesen Gedanken und sagt "God bless you!", genau wie mein afrikanischer "Augustin"-Verkäufer.

I. erzählt von rassistischen Bemerkungen und Gesten, die weh tun. Erst kürzlich habe sich eine ältere Frau in der U-Bahn demonstrativ von ihm weggesetzt. "Wie kann das sein, so unzivilisiertes Benehmen in einem zivilisierten Land?" fragt er und umschreibt dann grinsend das Bild, das Afrikaner gemeinhin von Europa haben, bevor sie hierher kommen. Europa sei so paradiesisch, dass dort nicht einmal die Flugzeuge auf dem Boden landen, so die gängige Vorstellung. Ich lache - und ich schäme mich für meine Landsleute.

Wir besuchen das Paar, auf dessen Hochzeit wir uns kennengelernt haben, und hören, dass die beiden, nun mit dem Verdacht konfrontiert sind, eine Scheinehe zu führen. Wie lächerlich, denke ich, und erinnere mich an die Hochzeitsgesellschaft, das bunte Gemenge aus österreichischer Verwandtschaft und internationalem Freundeskreis und den Kindern in allen Farbschattierungen.

Ich frage nach I.s Kindheit, seiner Jugend, lasse mir vom anstrengenden polygamen Leben seines Vater erzählen, von I.s sechs älteren Schwestern, die ihn tyrannisiert haben, und von den verschiedenen Berufen, die er neben seinem Studium ausgeübt hat. Er seinerseits will alles über das Leben in Österreich wissen, stellt Fragen über unsere Gesellschaft. Er geht indes weiter zu seinen Vorlesungen an die Universität. Ein privater Verein kommt für die Studiengebühren auf. Niemals bleibt er den Lehrveranstaltungen fern, auch nicht, als er einmal zwei Tage lang nichts zu essen hat. Das Studium bedeutet ihm mehr als alles andere. Er weiß, es ist seine Chance und seine Zukunft.

Ein normales Leben wolle er haben, sagt I., er wolle am Morgen ins Büro gehen und abends, wenn er nach Hause komme, von seiner Familie begrüßt werden. Vielleicht könne er eines Tages für die UNO arbeiten und dazu beitragen, dass die Welt Afrika für zehn Jahre in Ruhe lässt, damit der Kontinent seine Probleme selber lösen könne.

Er hört auf, über seine Situation zu sprechen, scheint die Gefahr zu ignorieren, in der er schwebt. Auf die Frage nach seinem Befinden behauptet er, stets lachend und Dialekt nachahmend, es gehe ihm "supa", doch es entgeht mir nicht, dass er zu viel raucht und an Gewicht verloren hat. Nach Treffen mit anderen Asylwerbern ist er immer sehr still, und ich wage nicht zu fragen, von welchen Schikanen und Übergriffen er gehört hat.

Das Ende kommt unvermutet. Eines Nachts entgeht I. nur durch Zufall einer Polizeirazzia im Haus der Freunde, bei denen er wohnt. Während die Polizei das Haus durchsucht, ruft er mich von der Straße aus an. "Sie nehmen zwei Leute fest, und sie haben meine Papiere", sagt er. "Ich kann nicht mehr zurück." Seine Stimme klingt verzweifelt. Ich versuche zu beruhigen, bitte ihn zu kommen. Er ist eine Weile still, dann sagt er: "Ich habe es satt, ein Gejagter zu sein. Ich gehe." "Don't worry about me", setzt er noch hinzu, dann bricht der Kontakt ab.

Der Staat hat nicht mit voller Brutalität zugeschlagen, doch seine Schikanen haben ihre Wirkung getan. Auch I. hat das Europa mit seinen Verheißungen von Sicherheit und Menschenrechten den erhofften Schutz nicht gewährt - ihm, der wie Millionen anderer das Pech hat, ein paar tausend Kilometer zu weit südlich zur Welt gekommen zu sein. Die "Erfolge" der Asylgesetze werden gefeiert, 40 Prozent weniger Asylanträge, 63 Prozent weniger Aufenthaltsgenehmigungen, 16 Prozent mehr Abschiebungen. Vielleicht wird sich I. doch noch beim Anwalt melden und erfahren, dass der Verwaltungsgerichtshof die Berufung gegen den schlampig verfassten Asylbescheid angenommen hat. Mir bleibt im Moment nichts weiter, als zu seinem Gott darum zu beten.

Seit Einführung des neuen Fremdenrechts am 1. Jänner 2006 ging die Zahl der Asylanträge deutlich zurück: von 22.461 Asylanträgen 2005 auf 13.347 im Vorjahr, das entspricht einer Verringerung um knapp 41 Prozent.

Dagegen wurden 45.869 Fremde im Vorjahr von Fremdenpolizeibehörden außer Landes gebracht, an der Einreise gehindert oder veranlasst, Österreich wieder zu verlassen: um 5831 mehr als 2005.


*) Anmerkung: Der Begriff »Asylant« (statt Asylwerber oder Asylbewerber) gehört auch heute noch zum normalen Ton in Österreich.

Menschenverachtende Erfahrungen in Graz/Österreich